Warum Privatsphäre wichtig ist, und es keine Rolle spielt, wenn man "nichts zu verbergen hat"
Dieser Artikel ist ursprünglich in englischer Sprache erschienen. Diese Übersetzung wurde freundlicherweise von Benjamin Oppermann (bennsn at gmail dot com) erstellt.
Die Regierungen von Australien, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und den USA zerstören deine Privatsphäre. Manche Menschen sehen darin kein Problem…
„Ich habe nichts zu verbergen, also warum sollte mich das kümmern?“
Es geht nicht darum, dass du „nichts zu verbergen“ hast. Privatsphäre ist ein Recht, das Individuen zusteht und die freie Meinungsäußerung, die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit untermauert; alle diese Freiheiten sind grundlegend für eine freie, demokratische Gesellschaft.
Die Aussage einiger Politiker: „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“ lenkt die ganze Debatte gezielt in die falsche Richtung.
Das betrifft uns alle. Wir müssen uns darum kümmern.
Zu argumentieren, dass einem das Recht auf Privatsphäre nichts bedeutet, weil man nichts zu verbergen hat, ist nicht anders, als zu sagen, freie Meinungsäußerung bedeute einem nichts, weil man nichts zu sagen hat.
– Edward Snowden
Privatsphäre und Freiheit
Der Verlust der Privatsphäre führt zum Verlust der Freiheit.
Deine Meinungsfreiheit ist bedroht durch die Überwachung deiner Internetnutzung – Denkweisen und Absichten können (falsch oder auch richtig) davon abgeleitet werden, welche Webseiten du besuchst, und das Wissen, dass du überwacht wirst, kann die Wahrscheinlichkeit verringern, dass du zu einem bestimmten Thema recherchierst. Dir geht dadurch die Perspektive verloren, die du durch die Recherche gewonnen hättest, und in der Folge kann dein Denken in eine bestimmte Richtung gedrängt werden. In ähnlicher Weise verliert der Rest von uns deine Perspektive, wenn die Dinge, die du im Internet schreibst oder privat anderen mitteilst, überwacht werden, und du deshalb Selbstzensur betreibst. Die Weiterentwicklung von Ideen wird so untergraben.
Dein Recht der Assoziierung ist bedroht durch die Überwachung deiner Internet- und Telefonkommunikationen, und deine Versammlungsfreiheit ist bedroht durch das Nachverfolgen deines Aufenthaltsorts über dein Mobiltelefon. Können wir es uns leisten, den Nutzen der Assoziationsfreiheit, den von AktivistInnen und BürgerrechtlerInnen herbeigeführten sozialen Wandel oder das Recht auf Protest aufs Spiel zu setzen?
Diese Freiheiten sind in diesem Moment dabei, ausgehöhlt zu werden. Die Auswirkungen werden sich mit der Zeit verschlimmern, indem jede Gelegenheit, bei der wir das Ausüben unserer Freiheiten unterlassen, auf der vorherigen aufbaut, während immer mehr Menschen die dämpfende Wirkung spüren.
Verknüpfung
Einzelne Informationsstücke, die zu verbergen dir vielleicht nicht der Mühe wert scheint, können zu einem informativen Profil verknüpft werden, das auch Dinge enthalten könnte, die du sehr wohl lieber geheim halten möchtest.
Im Falle der Vorratsdatenspeicherung in Australien haben wir unser Recht auf Privatsphäre verloren, und geben nun einen ständigen Strom folgender Informationen frei:
- wo wir hingehen,
- wen wir kontaktieren und wann
- und was wir im Internet tun
Mit nur einem kleinen Teil dieser Daten, einigen handelsüblichen Computerprogrammen und ein wenig Freizeit machten Leser von ABC News Will Ockendens Adresse, Arbeitsplatz und die Adresse seiner Eltern ausfindig.
Das Vordringen in die Privatsphäre wird noch spektakulärer, wenn man die Daten über eine gesamte Bevölkerung in Betracht zieht, sowie die gigantischen Budgets der „Five Eyes“-Geheimdienste und den ständigen Fortschritt in den Bereichen der künstlichen Intelligenz und der Analyse riesiger Datenmengen.
Deine Interaktionen mit deiner Umwelt können deine politischen und religiösen Ansichten, deine Wünsche, Sympathien und Überzeugungen preisgeben – sogar Informationen über dich, die dir selbst nicht bekannt sind (und diese könnten auch falsch sein).
Mit genug Zeit und genug Daten könnte dein Verhalten sogar vorausgesagt werden.
Persönliche Dämpfungswirkung
Wenn du begreifst, was für eine Fülle von Informationen zu deiner Person die Massenüberwachung zusammenträgt, beginnst du, dein Verhalten zu ändern – du meidest die Ausübung bestimmter Freiheiten.
Folgende Dinge könntest du dir dann erst zweimal überlegen:
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Menschen kontaktieren oder treffen (indem du deine Freiheit der Assoziierung ausübst), die deiner Einschätzung nach „Zielpersonen“ von staatlichen Untersuchungen werden könnten, oder die später von Algorithmen als solche festgelegt werden könnten, da du weißt, dass digitale Informationen über deine Verbindung zu diesen Personen mindestens zwei Jahre lang aufbewahrt werden und analysiert werden können,
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Mit einer Gruppe von diesen Menschen zusammenkommen (indem du dein Recht auf Versammlungsfreiheit ausübst). Würdest du an einem Protestmarsch teilnehmen, der Aktionen gegen den Klimawandel fordert, wenn du wüsstest, dass du in der Folge für immer mit einer Gruppe in Verbindung gebracht wirst, die von der australischen Regierung als „Selbstjustiz“-Bewegung von „Wirtschaftssaboteuren“ bezeichnet wird?
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An irgendeiner Aktivität teilnehmen, die dich in den Daten schlecht aussehen lässt – auch wenn du weißt, dass du unschuldig bist. Das könnte bedeuten, über bestimmte Themen im Internet nicht zu schreiben, bestimmte Webseiten zu meiden, oder ein bestimmtes Buch nicht zu kaufen – was ansonsten zur Ausübung deiner Meinungsfreiheit zählen würde.
Gesellschaftliche Dämpfungseffekte
Das Gesamtresultat dieser Vermeidungen in einer ganzen Bevölkerung ist ein dämpfender Effekt auf alle Aktivitäten, die für das gute Funktionieren einer Demokratie eine Schlüsselrolle spielen – unter anderen Aktivismus, Journalismus und politischer Dissens.
Wir alle profitieren von dem Fortschritt, der stattfindet, wenn AktivistInnen, JournalistInnen und die Gesellschaft als Ganzes in der Lage sind, politischen Diskurs und Dissens frei zu betreiben. Viele der positiven Veränderungen des vergangenen Jahrhunderts waren nur dank dieser Freiheiten möglich. Zum Beispiel wurde das Referendum von 1967 über die Einbeziehung der indigenen australischen Bevölkerung in die Volkszählung, welche als Grundlage für Bundesgesetze zur Besserstellung dieser Bevölkerungsgruppen diente, nur durch anhaltenden Aktivismus im Laufe der 1950er und 60er Jahre möglich.
Unglücklicherweise betreiben wir schon jetzt Selbstzensur. Eine Umfrage unter US-AutorInnen von 2013 hat erhoben, dass nach den Enthüllungen über die Massenüberwachungsprogramme der NSA eine von sechs befragten Personen davon Abstand genommen hat, über ein Thema zu schreiben, dass sie ihrer Einschätzung nach einer Überwachung durch die NSA aussetzen würde, und dass ein weiteres Sechstel dieses ernsthaft in Betracht gezogen hat.
Stelle dir folgende Frage: Wer hat zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte am meisten unter ungerechtfertigter Überwachung gelitten? Es sind nicht die Privilegierten, sondern die Wehrlosen. Bei Überwachung geht es nicht um Sicherheit, es geht um Macht. Es geht um Kontrolle.
– Edward Snowden
Veruntreuung und Missbrauch
Durch die Schaffung von Datenbanken und Systemen für leichten Zugang zu solch einer großen Menge an sensiblen persönlichen Informationen vergrößern wir den Anwendungsbereich für Massenüberwachung und damit die Angriffsfläche für Verletzungen unserer Menschenrechte.
Die DDR ist eines der extremsten Beispiele eines Überwachungsstaates in der Geschichte. Die Stasi – ihr berüchtigter Geheimdienst – beschäftigte 90.000 SpionInnen und verfügte über ein Netzwerk von mindestens 174.000 InformantInnen. Die Stasi führte minutiöse Akten über hunderttausende unschuldige Bürger, darunter die „Rosa Listen“ über Menschen, die sie für homosexuell hielt, und verwendete diese Informationen, um Menschen, die zu Abweichlern wurden, psychisch unter Druck zu setzen, zu erpressen und zu diskreditieren. Aber das war vor dem Internet. In einem Kommentar zum aktuellen System der Massenüberwachung durch die NSA sagte ein ehemaliger Oberstleutnant der Stasi: „damit wäre unser Traum in Erfüllung gegangen“.
Selbst wenn man das Risiko systematischen Fehlverhaltens des Staates beiseite lässt, wissen wir in Australien, dass die 2500 Schnüffler, die uneingeschränkten Zugang zu den gesammelten Daten haben, von „professioneller Neugier“ geplagt werden, moralisch fehlbar sind, und überhaupt nur Menschen sind. Daher werden sie Fehler machen und sind anfällig für Social Engineering, Erpressung oder Bestechung.
Dies ist am gefährlichsten für die Menschen, die am meisten exponiert sind. Wenn du zum Beispiel einen verärgerten oder gewalttätigen Ex-Partner hast, könntest du in tödliche Gefahr geraten, indem dieser Person so viele Details über dein Leben in die Hände fallen.
Risiken eingehen
Unsere „digitalen Leben“ ergeben ein genaues Abbild unserer wirklichen Lebens. Unsere Telefondaten enthüllen, wo wir hingehen und mit wem wir sprechen, und unsere Internetnutzung kann nahezu alles über uns und was uns wichtig ist exponieren.
Selbst wenn wir den Beweggründen unserer derzeitigen Regierungen vertrauen, und auch allen Personen, denen der Zugriff zu unseren Daten offiziell gestattet ist, gehen wir ein unglaubliches Risiko ein. Die Überwachungssysteme, die wir jetzt einrichten, können zu jeder Zeit von zukünftigen Regierungen sowie von ausländischen Geheimdiensten, DoppelagentInnen und opportunistischen Hackern missbraucht werden.
Je mehr Daten wir haben, desto zerstörerischer ihr Potential.
Schrittweiser Abbau
Jedes Überwachungssystem, dass wir heute einführen, baut unsere Privatsphäre ab und entfernt uns einen weiteren Schritt von einer freien Gesellschaft.
Während du von den Auswirkungen bis jetzt vielleicht noch nichts bemerkt hast, ist deine Privatsphäre bereits ausgehöhlt worden. Wenn wir unseren derzeitigen Weg weiter gehen, auf dem wir unsere Überwachungssysteme immer weiter ausbauen, wird das, was einst dein Privatleben war, nach und nach zu nichts zerfallen, und die Freiheiten, die wir für selbstverständlich gehalten haben, werden aufhören zu existieren.
Während die Technologie ständige Fortschritte macht, stehen wir vor einer Wahl. Wird sie weiterhin der Gesellschaft allgemeine Vorteile bringen, oder werden wir zulassen, dass sie für die totale Durchdringung unseres Privatlebens eingesetzt wird?
Die Privatsphäre geht nur selten auf einen Schlag gänzlich verloren. Sie wird meistens mit der Zeit allmählich ausgehöhlt, indem kleine Teile sich unmerklich auflösen, bis wir schließlich bemerken, wie viel verschwunden ist.
– Why Privacy Matters Even if You Have ‘Nothing to Hide’, Daniel J. Solove
Was nun?
Die Regierungen von Australien, Neuseeland, Kanada, den USA und anderen Ländern schicken sich an, mit der Trans-Pazifischen Partnerschaft (TPP) einen großen Schritt in die falsche Richtung zu machen. Die EFF erklärt, warum die TPP eine riesige Bedrohung für deine Privatsphäre und andere Rechte darstellt.
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Aktiv werden – wenn du technisch versiert bist, schließ dich Hack for Privacy an und leiste Widerstand gegen Massenüberwachung – hackforprivacy.org.
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Den Privatsphäre-Gedanken verbreiten – wir müssen eine besseres Verständnis dieser Problematik verbreiten um uns vor schädlichen Gesetzen zu schützen und gegen zukünftige Vorstöße in unsere Privatsphäre zu kämpfen. Bitte hilf mit, das Wissen zu verbreiten, diskutiere diesen Artikel mit einem Freund, tweete ihn, teile ihn online etc.
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Selbstschutz – schütze deine eigenen Daten vor Massenüberwachung. Das steigert die Kosten der Massenüberwachung und kommt auch anderen zugute. Lies meine Ratschläge zum Schutz deiner Daten vor Vorratsspeicherung in Australien, den Überwachungs-Selbstschutz-Leitfaden der EFF, und das Buch „Information Security for Journalists“.
Originalartikel auf Englisch. Übersetzung auch in Italienisch verfügbar.